Die Forschung nach einem Medikament gegen COVID-19 lässt die Small Molcecules eine Renaissance erleben. Dieser Beitrag beleuchtet die Small Molecules von ihrer Entdeckung bis heute.
Der Ursprung.
Wir befinden uns in Rom des Jahres 1893. Eigentlich untersuchte der römische Arzt und Mikrobiologe Bartolomeo Gosio die Vitaminmangelkrankheit Pellagra, deren Ursache er in einer Pilzinfektion von Mais vermutete. Dabei isolierte er aus einem Schimmelpilz der Gattung Penicillium (vermutlich Penicillium Brevicompactum) eines der ersten Arzneimittel „biologischen“ Ursprungs.[1] Die von Gosio isolierte kristalline Mycophenolsäure hemmte seinen Beobachtungen nach das Wachstum des Milzbranderregers (Bacillus anthracis). Die dazugehörige Studie veröffentlichte Gosio im Jahr 1896 (Abbildung 1).[2]
Während Gosio heutzutage vermutlich aufgrund seiner fehlenden Englischkenntnisse fast vollkommen in Vergessenheit geraten ist, blieb Alexander Fleming der Weltgeschichte bis zum heutigen Tag erhalten. Der schottische Mediziner und Bakteriologe entdeckte die Penicilline 1922 wieder.[3]
Zu Beginn fanden seine Forschungen jedoch kaum Beachtung. Erst der Zweite Weltkrieg verhalf seiner bahnbrechenden Entdeckung zum Durchbruch. Wie so oft stellte sich in der Folge die massenweise Herstellung des Wirkstoffs als schwierig heraus. Erst als sich auch die USA auf die Suche nach einem geeigneten Pilzstamm machten, der Penicillin in größeren Mengen produziert, und eine Methode entwickelten, um den Pilz mittels Fermentation zu züchten, wurden große Feldversuche möglich. In der Folge feierte Penicillin große Erfolge auf den Schlachtfeldern Nordafrikas. Ab 1944 konnte die Produktion auch die Zivilbevölkerung versorgen. Alexander Fleming erhielt für seine Entdeckung 1945 den Medizinnobelpreis.
Der Siegeszug der sogenannten Antibiotika (Substanzen, die das Wachstum von Mikroorganismen/Bakterien hemmen) und ihrer weiterentwickelten Derivate und Analoga begann.
Heute.
Im Jahr 2020 sieht sich die Weltbevölkerung mit großen Herausforderungen konfrontiert. Das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 beherrscht den Alltag aller Menschen rund um den Globus. Das sich stark ausbreitende Virus forderte bis heute weltweit mehrere tausend Tote.[4]
Weltweit hat ein Rennen um die Entwicklung eines erfolgsversprechenden Therapieansatzes begonnen. Projekte für Antikörper zur Passivimmunisierung, Studien zur Neuentwicklung geeigneter Wirkstoffe bzw. Impfstoffe bis hin zur Wiederverwendung oder „ins Rennen bringen“ von bereits vorhandenen – in einem anderen Kontext zugelassenen – antiviralen Medikamenten. Dieser schnelle Weg, ein antivirales SARS-CoV-2-Medikament zeitnah zur Verfügung zu haben, basiert auf einem „Repurposing“-Ansatz (den Zweck ändernd). Der Vorteil besteht darin, dass sowohl präklinische als auch klinische Sicherheitsprofile prinzipiell vorliegen, allerdings noch nicht im Kontext einer SARS-CoV-2-Infektion, bzw. COVID-19-Erkrankung. In diesem Kontext wird derzeit eine Vielzahl, bereits etablierter, sogenannter Small Molecules getestet und letztere erleben in den vergangenen Monaten fast schon eine kleine Renaissance.
Small Molecules Arzneimittel Versus Biologische Arzneimittel.
À propos Rennen! Wo liegt eigentlich der Unterschied zwischen den sog. Small Molecules und ihren Konkurrenten, den Biologics, und was hat das mit der aktuellen Situation zu tun?
Small Molecules („kleine Moleküle“, oder auch NCE, „New Chemical Entities„) sind organische niedermolekulare Verbindungen mit einem Molekulargewicht bis 1 kDa. Sie haben einen Einfluss auf biologische Prozesse oder regulieren diese. Eine beachtliche Reihe von pharmazeutisch aktiven Wirkstoffen fallen unter die Rubrik der Small Molecules. Ihre Anwendungen am Menschen im pharmazeutischen Fertigprodukt sind vielfältig.
So dienen sie zum Beispiel als Medikamente in der Medizin oder als Pestizide in der Agrarwissenschaft. Diese Moleküle werden meist in Rührwerkskesseln mit mehreren tausend Litern Fassungsvermögen in organischen Lösungsmitteln schrittweise unter optimal eingestellten Reaktionsbedingungen synthetisiert und über kontrollierte Kristallisation isoliert. Ihre massenweise, industrielle Herstellung ist nicht aufwendig.
Biologika oder Biologics hingegen sind Arzneistoffe, die mit den Mitteln der rekombinanten Biotechnologie und gentechnisch veränderten Organismen (GMO, „Genetically Modified Organisms„) hergestellt werden. Hierbei kommen sog. Fermenter oder Bioreaktoren zum Einsatz.
Biologics besitzen ein Molekulargewicht ab 1 kDa, sind generell polar und sensibel gegenüber Hitze. Im Vergleich zu Small Molecules sind sie in ihrer Struktur erheblich komplexer. Große Mengen (in mehreren Kg-Maßstab) herzustellen ist sehr aufwendig und um ein Vielfaches zeit- und kostenintensiver als die Herstellung von Small Molecules. Ihren Einsatz finden insbesondere sogenannte therapeutische Antikörper (das sind große makromolekulare Biologics), die eine spezifische Binde-Eigenschaft zu bestimmten Zielmolekülen besitzen, überwiegend in der Onkologie zur Tumorbehandlung, aber auch in der Autoimmunität zur Behandlung von chronischen Autoimmunerkrankungen.[5]
Vor- und Nachteile der beiden Gruppen.
In den vergangenen Jahren entbrannte ein regelrechter Wettkampf zwischen diesen zwei Produktkategorien. Beide Gruppen haben ihre spezifischen Einsatzgebiete und Vor- und Nachteile.
Small Molecules galten zwischenzeitlich als relativ einfaches Geschäft, das sein Potenzial nahezu ausgeschöpft zu haben schien, insbesondere im Kontext der Protein-Kinase-Inhibitoren. Unter Protein-Kinasen versteht man Enzyme, die unter energetischem Aufwand bestimmte Moleküle (Phosphatgruppen) auf spezifische Ziel-Moleküle übertragen und sie damit aktivieren. Small Molecules wurden so entwickelt, dass die Phosphatgruppen-Übertragung bestimmter, spezifischer Protein-Kinasen, inhibiert werden und somit diese sogenannten Protein-Kinase-Inhibitoren breiten Einsatz in der Onkologie zur Behandlung von Tumoren finden können.[6]
Small Molecules hingegen finden ihre breite Anwendung im Alltag. Zwei der bekanntesten Vertreter sind wohl Efavirenz, ein chiraler Arzneistoff, der zur Gruppe der nicht-nukleosidischen Reverse-Transkriptase-Inhibitoren (NNRTI) gehört und zur Behandlung von HIV-infizierten Patienten eingesetzt wird.[7] Ein weiterer ist Valsartan, aus der Gruppe der AT1-Antagonisten, und dient zur Behandlung von Bluthochdruck bzw. leicht bis mittelstarker Herzinsuffizienz (Abbildung 2).[8]
Betrachtet man Daten und Fakten, hat die U.S. Food and Drug Administration (U.S. FDA) zwischen 2010 und 2017 insgesamt 262 New Chemical Entities (NCEs) genehmigt. Davon ca. 75% Small Molecules und 25% Biologics.[9]
Schaut man indes auf den Preis der zwei Produktkategorien – Biologics sind deutlich teurer als Small Molecules – ergibt sich bzgl. Verkaufszahlen und Anwendungsspektrum ein anderes Bild.
Im Zeitraum von 2011 bis 2017 sind die Verkaufseinnahmen durch Biologics um ganze 70% auf 232 Milliarden USD gestiegen. Der Anteil am gesamten pharmazeutischen Markt wuchs von insgesamt 16% im Jahr 2006 auf 25% in 2016. Und das ohne Anzeichen einer zukünftigen Abflachung oder Minderung.[10]
Dennoch fließt nach wie vor enormer Aufwand in die Forschung und Entwicklung von Small Molecules, vor allem in den Therapiebereichen wie Morbus Crohn, Colitis Ulcerosa, Parkinson, Hepatitis C oder Leukämie. Auch große Bereiche wie Onkologie, Immunologie, Neurologie und virologische und bakteriologische Infektionserkrankungen bleiben weiterhin im Fokus.
Warum uns dieser Umstand nun zu Gute kommt.
Die größten Pharmaunternehmen können heute aus einem riesigen Portfolio an Small Molecules schöpfen, um erste Testanwendung bei SARS-CoV-2 erkrankten Patienten zu beginnen.
Vier potentielle antivirale Kandidaten wurden dabei zu den Favoriten erklärt.
In der engeren Auswahl befinden sich einige „repurposed drugs“, die bereits am Menschen getestet wurden und alle präklinischen und klinischen Studien durchlaufen haben. Der fortschrittlichste Wirkstoff ist wohl 1) Remdesivir von Gilead.[11] Es handelt sich hierbei um ein Nukleosidanalogon, welches aufgrund seiner virostatischen Eigenschaften zum Einsatz gegen Ebola Infektionen entwickelt wurde (Abbildung 3).
Weitere Kandidaten sind 2) Favipiravir und 3) Chloroquin (Abbildung 4).[12][13]
Favipiravir, T-705, ist ein Virostatikum, das gegen Infektionen mit verschiedenen RNA-Viren verwendet wird. Es gehört zu der Gruppe der Pyrazincarboxamiden und wurde während der Ebolafieber-Epidemie eingesetzt. Chloroquin, ein Chinolinderivat, wird als Arzneistoff zur Therapie von Malaria verwendet, aber auch bei bestimmten entzündlich-rheumatischen Erkrankungen, u.a. dem Systemischen Lupus Erytematosus (SLE).[14][15]
Beim vierten, aktuell in Frage kommenden Medikament handelt es sich um den repurposed-Protease-Inhibitor Camostat.[16] Es ist in Japan als Foipan zugelassen und dient zur oralen Behandlung der chronischen Bauchspeicheldrüsenentzündung, der Pankreatitis und Speichelröhrenentzündung (Abbildung 5).
Camostat ist ein funktionalisiertes Derivat der p-Aminobenzoesäure. Camostat hemmt in vitro verschiedene pankreatische, proteolytische Enzyme sowie die hydrolytische Aktivität der C1r- und C1-Esterase. Des Weiteren hemmt es die zelluläre TMPRSS2, eine membranständige Protease, die von SARS-CoV-2 zum Eintritt in die Zelle gebraucht wird.[17]
Zusammenfassung und Ausblick.
Dieser kurze Überblick zeigt, wie wichtig die Forschung und Entwicklung an potenten Small Molecules nach wie vor ist. Beide Gruppen, sowohl Small Molecules als auch Biologics, haben ihre Daseinsberechtigung. Sie weisen jeweils viele Vorteile auf, die die andere Produktgruppe nicht liefern kann, wodurch Small Molecules und Biologics häufig komplementäre Anwendungen finden. Die Welt ist in dieser Hinsicht nicht schwarz oder weiß!
Vor dem Hintergrund der zunehmenden Beobachtungen von Lieferengpässen dringend benötigter Arzneimittel vom Typ Small Molecules und der sich zurzeit bietenden Gelegenheit, neue Medikamente zu entwickeln oder „repurposed Medikamente“ gegen COVID-19 zu produzieren und zu testen, ist ein entscheidender Beitrag der Pharmazeutischen Hersteller wünschenswert, um die Arzneimittelproduktion wieder zurück nach Europa zu holen.[18]
Deutschland und die Schweiz, als „Hochburgen“ der pharmazeutisch-chemischen Industrie, sollten hier eine Vorreiterrolle einnehmen und diesen Schritt einleiten. Kontinuierliche Forschung an aktiven pharmazeutischen Wirkstoffen, ob Small Molecules, Biosimilars, Generika oder sonstige Biologics, sind existenziell und sollten stets ohne große Abhängigkeiten von anderen, nicht immer berechenbaren Partnern erreichbar und verfügbar bleiben.
Referenzen.
- [1]a) B. Gosio et al., Giornale della Reale Accademia di Medicina di Torino 1893, 61, 484; b) B. Gosio et al., Archives Italiennes de Biologie 1893, 18, 253.
- [2]B. Gosio et al., Rivista d’Igiene e Sanità Pubblica 1896, 7, 484.
- [3]A. Flemming et al., Proceedings of the Royal Society of London. Series B. 1922, 93, 306.
- [4]https://www.rnd.de/gesundheit/corona-heute-aktuelle-zahlen-am-22042020-lander-infizierte-tote-genesungen-ZF7G5L2KOREUFDX5XF4HGGXDFI.html; Aufgerufen am 22. April 2020.
- [5] Zitat: Monoclonal antibodies – a proven and rapidly expanding therapeutic modality for human diseases“. Protein Cell 2010, 1, 319-330. https://link.springer.com/content/pdf/10.1007%252Fs13238-010-0052-8.pdf; Aufgerufen am 23. April 2020.
- [6]Zitat: „Approved and experimental small‐molecule oncology kinase inhibitor drugs: a mid‐2016 overview. Medicinal Research Reviews, 2017 – Wiley Online Library. http://eprints.nottingham.ac.uk/37903/1/Fischer_PM_Med_Res_Rev_2016_ePrint.pdf; Aufgerufen am 23. April 2020.
- [7]a) A. Lilian et al., Synthetic Communications 1997, 27, 4373;
b) M. E. Pierce et al., Journal of Organic Chemistry, 1998, 63, 8536. - [8]S. Ghosh et al., Beilstein Journal of Organic Chemistry 2010, 6, 27.
- [9]https://dcatvci.org/5001-new-drug-approvals-reached-21-year-high-in-2017;
Aufgerufen am 22. April 2020. - [10]https://www.iqvia.com/-/media/iqvia/pdfs/nemea/uk/disruption_and_maturity_the_next_phase_of_biologics.pdf; Aufgerufen am 22. April 2020.
- [11]a) T. K. Warren et al., Nature 2016, 531, 381; b) M. K. Lo et al., Scientific Reports 2017, 7, 43395;
c) E. De Clercq et al., Chemistry, An Asian Journal 2019, 14, 3962; d) E. P. Tchesnokov, Viruses 2019, 11, 326; e) M. Wang, Cell Research 2020, 30, 269. - [12]a) Y. Furuta et al., Antiviral Research 2009, 82, 95; b) T. Baranovich et al., Journal of Virology 2013, 87, 3741; c) F. Shi et al., Drug Discoveries and Therapeutics 2014, 8, 117.
- [13]a) J. Gao et al., BioScience Trends 2020, doi:10.5582/bst.2020.01047; b) C. Jun et al., Journal of Zhejiang University Medical Sciences 2020, doi:10.3785/j.issn.1008-9292.2020.03.03; c) P. Gautret et al., International Journal of Antimicrobial Agents 2020, doi:10.1016/j.ijantimicag.2020.105949.
- [14]Zitat: “Clinical evidence and immunologic actions”. J. Autoimmun. 2016, 74, 73. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5079835/pdf/nihms800707.pdf; Aufgerufen am 1. Mai 2020.
- [15]Zitat: “Perspective Piece Malaria Elimination: Time to Target All Species”. Am. J. Trop. Med. Hyg. 2018, 99, 17. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6035869/pdf/tpmd170869.pdf;
Aufgerufen am 1. Mai 2020. - [16]S. Fujii et al., Biochimica et Biophysica Acta– Enzymology 1981, 661, 342.
- [17]Hoffmann et al., “SARS-CoV-2 Cell Entry Depends on ACE2 and TMPRSS2 and Is Blocked by a Clinically Proven Protease Inhibitor”. Cell 2020, https://doi.org/10.1016/j.cell.2020.02.052, https://www.cell.com/cell/fulltext/S0092-8674(20)30229-4; Aufgerufen am 22. März.2020.
- [18]R. D. Hess et al., “Drug shortages – A Critical Appraisal: The generics supply chain from the perspective of the German pharmaceutical generic drug industry”. RAPS Regulatory Focus, Manuscript submitted on April 28th, 2020.